Die verborgene Geschichte der Kartenkunst

14.04.2025

Wenn wir heute an Kartenlegen denken, sehen wir vielleicht eine moderne Legung auf Instagram, eine intuitive Botschaft in einem spirituellen Blog oder eine Tarotkarte, die uns in einer Lebensphase begleitet. Doch das Kartenlegen hat eine viel tiefere, alte Wurzel. In den Gassen von Paris, den Salons Wiens und auf Jahrmärkten Europas wurde schon vor Jahrhunderten mit Karten gedeutet, beraten und geweissagt. Besonders das 18. und 19. Jahrhundert war eine bedeutende Zeit für die Entwicklung der Kartenkunst. In diesem Artikel tauchen wir tief ein in die verborgene Geschichte der Kartenkunst, beleuchten ihre gesellschaftliche Rolle und stellen dir einige besondere Kartenleger:innen jener Zeit vor.

1. Die Anfänge: Kartenlegen als geheime Sprache der Intuition

Die Geschichte des Kartenlegens beginnt nicht mit dem Lenormand-Deck, sondern viel früher. Schon im 15. Jahrhundert waren in Europa Spielkarten bekannt, die zunächst als Unterhaltung dienten. Doch schon bald begannen Menschen, mehr in ihnen zu sehen – Muster, Deutungen, Hinweise.

Vor dem 18. Jahrhundert war Kartenlegen häufig eng mit Aberglauben, Volksmagie und der sogenannten "Volksweisheit" verbunden. Die Karten dienten:

  • als Orakel für Bauern und Dienstmädchen

  • als Entscheidungshilfe in Lebenskrisen

  • als Warnung vor Gefahren oder zur Liebesdeutung

Kartenlesen war kein elitäres Wissen – es war Teil des Alltags vieler Menschen.

2. Die Aufklärung und das Misstrauen gegenüber der "Magie"

Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, wurde alles, was nicht rational erklärbar war, skeptisch beäugt. Auch Kartenlegen geriet unter Verdacht. Doch paradoxerweise blühte es gerade in dieser Zeit besonders auf – im Verborgenen.

Die Menschen sehnten sich nach Antworten, nach persönlicher Führung, nach einem Blick "hinter den Vorhang". Die Kirche und die Staatsmacht warfen Kartenlegern häufig Betrug oder Hexerei vor. Dennoch blieben sie gefragt. Gerade Frauen, die keine formelle Bildung erhalten durften, entwickelten ihre ganz eigene Form von Weisheit – intuitiv, symbolisch, aus der Beobachtung.

3. Madame Lenormand: Die berühmteste Kartenlegerin Europas

Keine Geschichte der Kartenkunst ist vollständig ohne sie: Marie-Anne Adélaïde Lenormand (1772–1843). Sie gilt als die bekannteste Wahrsagerin Europas.

Wer war sie?

  • Geboren in Alençon, Frankreich

  • Arbeitete in Paris, im Herzen der geistigen und politischen Elite

  • Beratete u. a. Napoleon Bonaparte, Joséphine, Robespierre

  • War autodidaktisch gebildet, mystisch interessiert und scharf beobachtend

Warum war sie so besonders?

  • Sie verband Kartenlegen mit Astrologie, Handlesen und Intuition

  • Ihre Aussagen waren oft mutig, politisch brisant und erstaunlich treffsicher

  • Sie schuf kein eigenes Kartendeck – aber ihr Name wurde später auf ein populäres System übertragen (Petit Lenormand)

Madame Lenormand war eine Grenzgängerin: zwischen Politik und Mystik, zwischen Intuition und strategischer Klugheit. Ihre Aura wirkt bis heute.

4. Die Rolle der Kartenlegerinnen im 19. Jahrhundert

Während Männer ihre Macht über Universitäten, Kirche oder Militär festigten, war das Kartenlegen für viele Frauen ein Weg:

  • zu einem eigenen Einkommen

  • zu spiritueller Ausdruckskraft

  • zu Einfluss, den sie sonst nicht haben konnten

In Wien, Berlin und Paris:

  • gab es zahlreiche "Geheimtipps" unter den Wahrsagerinnen

  • wurden Salons eröffnet, in denen Karten gelegt, Energie gelesen und spirituelle Sitzungen abgehalten wurden

  • war Kartenlegen besonders unter Adligen und Künstlern beliebt

Kartenlegerinnen wurden häufig in einer Mischung aus Faszination und Angst betrachtet. Sie waren Seherinnen, Projektionsflächen, manchmal auch Zielscheiben.

In einer patriarchalischen Welt waren Karten ein Werkzeug weiblicher Selbstermächtigung.

5. Welche Karten wurden verwendet?

🔮 Die Spielkarten (klassisches Deck)

  • Die häufigste Form im 18. Jahrhundert

  • Die Farben (Herz, Karo, Pik, Kreuz) hatten symbolische Bedeutung

🌙 Das Tarot

  • Bereits seit dem 15. Jahrhundert bekannt

  • Beliebt bei Mystikern, Esoterikern, Rosenkreuzern, Freimaurern

  • Besonders das Tarot de Marseille war weit verbreitet

🃏 Das Petit Lenormand (ab ca. 1850 populär)

  • 36 Karten, inspiriert vom "Spiel der Hoffnung"

  • Symbolsprache leicht zugänglich, stark mit Alltagsbildern verbunden

  • Rasche Verbreitung durch Madame Lenormands posthumen Ruhm

6. Berühmte Kartenleger:innen im 18. und 19. Jahrhundert

Neben Madame Lenormand gab es viele weitere einflussreiche Persönlichkeiten, z. B.:

🔹 Etteilla (Jean-Baptiste Alliette)

  • Einer der ersten, der Tarot systematisch zum Wahrsagen nutzte

  • Schrieb Bücher, entwickelte eigene Deutungssysteme

  • Begründer des esoterischen Tarot (Etteilla-Tarot)

🔹 Mademoiselle Le Normand (nicht zu verwechseln mit Madame!)

  • Spätere Legende, die als Marketingfigur verwendet wurde

  • Ihr Name wurde kommerziell für Decks verwendet, war aber kein reales Pendant zur echten Marie-Anne

🔹 Papus (Gérard Encausse)

  • Arzt, Okkultist, Tarotforscher

  • Schrieb umfangreich über die symbolische Bedeutung des Tarots

  • Brücke zwischen Kabbala, Tarot und westlicher Magie

7. Kartenkunst als subversiver Akt

Im 18. und 19. Jahrhundert war Kartenlegen nicht nur spirituelle Praxis – sondern oft auch revolutionärer Akt. Frauen, Arme, Außenseiter: Sie alle nutzten die Karten, um...

  • ihre Intuition zu stärken

  • Antworten zu finden, die ihnen sonst verwehrt waren

  • sich gegen gesellschaftliche Machtstrukturen zu behaupten

Die Karten waren nie "nur ein Spiel" – sie waren ein Spiegel für das Unaussprechliche.

8. Der Einfluss der damaligen Zeit auf heute

Viele heutige Praktiken im Kartenlegen stammen aus dieser Zeit:

  • Das kleine Blatt (Lenormand) als intuitives System

  • Die Einbindung von astrologischen und numerologischen Deutungen

  • Die Mischung aus Symbolsprache und persönlicher Intuition

Moderne Kartendecks ehren oft diese Ursprünge – mit historischen Illustrationen, mythologischen Themen oder sogar direkten Zitaten aus alten Schriften.

Und das Bedürfnis ist geblieben:

  • nach Orientierung

  • nach spiritueller Tiefe

  • nach einer Sprache, die das Unsichtbare berührt

9. Fazit: Kartenkunst ist kulturelles Erbe und lebendige Praxis

Die Geschichte des Kartenlegens im 18. und 19. Jahrhundert ist voller Mut, Magie und weiblicher Kraft. Sie zeigt:

  • wie tief das Bedürfnis nach Verbindung zur geistigen Welt ist

  • wie Karten nicht nur "Antworten", sondern Bewusstwerdung schenken

  • wie Spiritualität immer auch kulturell geprägt ist

Wenn du heute eine Karte ziehst, verbindest du dich mit einem alten, machtvollen Feld. Du bist Teil einer Linie von Fragenden, Sehenden, Mutigen.

Welche historische Figur aus der Kartenkunst fasziniert dich am meisten? Was spürst du, wenn du dir vorstellst, wie vor 200 Jahren Menschen ihre Karten legten? Teile deine Gedanken gerne in den Kommentaren – gemeinsam schreiben wir das nächste Kapitel dieser Geschichte.