Die verborgene Geschichte der Kartenkunst

Wenn wir heute an Kartenlegen denken, sehen wir vielleicht eine moderne Legung auf Instagram, eine intuitive Botschaft in einem spirituellen Blog oder eine Tarotkarte, die uns in einer Lebensphase begleitet. Doch das Kartenlegen hat eine viel tiefere, alte Wurzel. In den Gassen von Paris, den Salons Wiens und auf Jahrmärkten Europas wurde schon vor Jahrhunderten mit Karten gedeutet, beraten und geweissagt. Besonders das 18. und 19. Jahrhundert war eine bedeutende Zeit für die Entwicklung der Kartenkunst. In diesem Artikel tauchen wir tief ein in die verborgene Geschichte der Kartenkunst, beleuchten ihre gesellschaftliche Rolle und stellen dir einige besondere Kartenleger:innen jener Zeit vor.
1. Die Anfänge: Kartenlegen als geheime Sprache der Intuition
Die Geschichte des Kartenlegens beginnt nicht mit dem Lenormand-Deck, sondern viel früher. Schon im 15. Jahrhundert waren in Europa Spielkarten bekannt, die zunächst als Unterhaltung dienten. Doch schon bald begannen Menschen, mehr in ihnen zu sehen – Muster, Deutungen, Hinweise.
Vor dem 18. Jahrhundert war Kartenlegen häufig eng mit Aberglauben, Volksmagie und der sogenannten "Volksweisheit" verbunden. Die Karten dienten:
als Orakel für Bauern und Dienstmädchen
als Entscheidungshilfe in Lebenskrisen
als Warnung vor Gefahren oder zur Liebesdeutung
Kartenlesen war kein elitäres Wissen – es war Teil des Alltags vieler Menschen.
2. Die Aufklärung und das Misstrauen gegenüber der "Magie"
Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, wurde alles, was nicht rational erklärbar war, skeptisch beäugt. Auch Kartenlegen geriet unter Verdacht. Doch paradoxerweise blühte es gerade in dieser Zeit besonders auf – im Verborgenen.
Die Menschen sehnten sich nach Antworten, nach persönlicher Führung, nach einem Blick "hinter den Vorhang". Die Kirche und die Staatsmacht warfen Kartenlegern häufig Betrug oder Hexerei vor. Dennoch blieben sie gefragt. Gerade Frauen, die keine formelle Bildung erhalten durften, entwickelten ihre ganz eigene Form von Weisheit – intuitiv, symbolisch, aus der Beobachtung.
3. Madame Lenormand: Die berühmteste Kartenlegerin Europas
Keine Geschichte der Kartenkunst ist vollständig ohne sie: Marie-Anne Adélaïde Lenormand (1772–1843). Sie gilt als die bekannteste Wahrsagerin Europas.
Wer war sie?
Geboren in Alençon, Frankreich
Arbeitete in Paris, im Herzen der geistigen und politischen Elite
Beratete u. a. Napoleon Bonaparte, Joséphine, Robespierre
War autodidaktisch gebildet, mystisch interessiert und scharf beobachtend
Warum war sie so besonders?
Sie verband Kartenlegen mit Astrologie, Handlesen und Intuition
Ihre Aussagen waren oft mutig, politisch brisant und erstaunlich treffsicher
Sie schuf kein eigenes Kartendeck – aber ihr Name wurde später auf ein populäres System übertragen (Petit Lenormand)
Madame Lenormand war eine Grenzgängerin: zwischen Politik und Mystik, zwischen Intuition und strategischer Klugheit. Ihre Aura wirkt bis heute.
4. Die Rolle der Kartenlegerinnen im 19. Jahrhundert
Während Männer ihre Macht über Universitäten, Kirche oder Militär festigten, war das Kartenlegen für viele Frauen ein Weg:
zu einem eigenen Einkommen
zu spiritueller Ausdruckskraft
zu Einfluss, den sie sonst nicht haben konnten
In Wien, Berlin und Paris:
gab es zahlreiche "Geheimtipps" unter den Wahrsagerinnen
wurden Salons eröffnet, in denen Karten gelegt, Energie gelesen und spirituelle Sitzungen abgehalten wurden
war Kartenlegen besonders unter Adligen und Künstlern beliebt
Kartenlegerinnen wurden häufig in einer Mischung aus Faszination und Angst betrachtet. Sie waren Seherinnen, Projektionsflächen, manchmal auch Zielscheiben.
In einer patriarchalischen Welt waren Karten ein Werkzeug weiblicher Selbstermächtigung.
5. Welche Karten wurden verwendet?
🔮 Die Spielkarten (klassisches Deck)
Die häufigste Form im 18. Jahrhundert
Die Farben (Herz, Karo, Pik, Kreuz) hatten symbolische Bedeutung
🌙 Das Tarot
Bereits seit dem 15. Jahrhundert bekannt
Beliebt bei Mystikern, Esoterikern, Rosenkreuzern, Freimaurern
Besonders das Tarot de Marseille war weit verbreitet
🃏 Das Petit Lenormand (ab ca. 1850 populär)
36 Karten, inspiriert vom "Spiel der Hoffnung"
Symbolsprache leicht zugänglich, stark mit Alltagsbildern verbunden
Rasche Verbreitung durch Madame Lenormands posthumen Ruhm
6. Berühmte Kartenleger:innen im 18. und 19. Jahrhundert
Neben Madame Lenormand gab es viele weitere einflussreiche Persönlichkeiten, z. B.:
🔹 Etteilla (Jean-Baptiste Alliette)
Einer der ersten, der Tarot systematisch zum Wahrsagen nutzte
Schrieb Bücher, entwickelte eigene Deutungssysteme
Begründer des esoterischen Tarot (Etteilla-Tarot)
🔹 Mademoiselle Le Normand (nicht zu verwechseln mit Madame!)
Spätere Legende, die als Marketingfigur verwendet wurde
Ihr Name wurde kommerziell für Decks verwendet, war aber kein reales Pendant zur echten Marie-Anne
🔹 Papus (Gérard Encausse)
Arzt, Okkultist, Tarotforscher
Schrieb umfangreich über die symbolische Bedeutung des Tarots
Brücke zwischen Kabbala, Tarot und westlicher Magie
7. Kartenkunst als subversiver Akt
Im 18. und 19. Jahrhundert war Kartenlegen nicht nur spirituelle Praxis – sondern oft auch revolutionärer Akt. Frauen, Arme, Außenseiter: Sie alle nutzten die Karten, um...
ihre Intuition zu stärken
Antworten zu finden, die ihnen sonst verwehrt waren
sich gegen gesellschaftliche Machtstrukturen zu behaupten
Die Karten waren nie "nur ein Spiel" – sie waren ein Spiegel für das Unaussprechliche.
8. Der Einfluss der damaligen Zeit auf heute
Viele heutige Praktiken im Kartenlegen stammen aus dieser Zeit:
Das kleine Blatt (Lenormand) als intuitives System
Die Einbindung von astrologischen und numerologischen Deutungen
Die Mischung aus Symbolsprache und persönlicher Intuition
Moderne Kartendecks ehren oft diese Ursprünge – mit historischen Illustrationen, mythologischen Themen oder sogar direkten Zitaten aus alten Schriften.
Und das Bedürfnis ist geblieben:
nach Orientierung
nach spiritueller Tiefe
nach einer Sprache, die das Unsichtbare berührt
9. Fazit: Kartenkunst ist kulturelles Erbe und lebendige Praxis
Die Geschichte des Kartenlegens im 18. und 19. Jahrhundert ist voller Mut, Magie und weiblicher Kraft. Sie zeigt:
wie tief das Bedürfnis nach Verbindung zur geistigen Welt ist
wie Karten nicht nur "Antworten", sondern Bewusstwerdung schenken
wie Spiritualität immer auch kulturell geprägt ist
Wenn du heute eine Karte ziehst, verbindest du dich mit einem alten, machtvollen Feld. Du bist Teil einer Linie von Fragenden, Sehenden, Mutigen.
✨ Welche historische Figur aus der Kartenkunst fasziniert dich am meisten? Was spürst du, wenn du dir vorstellst, wie vor 200 Jahren Menschen ihre Karten legten? Teile deine Gedanken gerne in den Kommentaren – gemeinsam schreiben wir das nächste Kapitel dieser Geschichte.